«IN THE WORLD OF LABOUR»

Aus dem Begleitheft zum Video Anna Bürkli, Stadtgalerie Bern:

Was ist Arbeit? Damals wie heute wird allgemein akzeptiert, dass als Arbeit die Art von Leistung gilt, für die man als Gegenwert Geld erhält. Alle Tätigkeiten, die nicht bezahlt sind, sind demnach keine Arbeit. Dieser Logik folgt auch, dass höher qualifizierte Arbeit besser bezahlt wird. «Arbeitgeber» schaffen Arbeitsplätze, an denen Menschen Arbeit leisten. Die Beziehung zwischen Arbeitgebern und den Arbeitnehmern ist als klare Hierarchie definiert, sie verläuft von oben nach unten, wobei die Mehrheit unten ist.
 
Konzernleitungen verspürten nach dem 1. Weltkrieg und den darauf folgenden politischen Unruhen, welche die Arbeiterschaft zu einem Selbst-Bewusstsein sensibilisierten, Unbehagen, Misstrauen und Furcht vor dieser Mehrheit. Auf die politische und soziale Konfliktlage reagierte 1919 die Leitung der alten Daimler Motorengesellschaft des Werkes Stuttgart-Untertürk mit einem besonderen Instrument der Krisenintervention. Eine Werkzeitschrift für die Belegschaft gehörte zum sozialpolitischen Programm, welches positiv auf die Stimmung der Arbeiter einwirken sollte. Der Direktor und Vorstandsmitglied des Konzerns Paul Riebensahm (1880 – 1971) strebte an, die Kluft zwischen den Arbeitern und dem Konzern zu überwinden, da er erkannte: «dass der Mensch nicht um der Arbeit willen da ist, sondern die Arbeit um des Menschen willen». Der Rechtshistoriker, Sprachphilosoph und Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy (1888 – 1973) erstellte in seinem Auftrag das publizistische Konzept der Daimler Werkzeitung. Mit der Daimler Werkzeitung, die eine Vorläuferin der heutigen Mitarbeiterzeitung war, sollten gesellschaftliche Grenzen durch Dialog überwunden werden. Das Ziel war es eine gemeinsame Werksprache zu entwickeln. Rosenstock wollte als Auftragnehmer unabhängig von der Konzernleitung funktionieren und liess sich nur als freier Mitarbeiter unter Vertrag nehmen. Die Inhalte der Werkzeitschrift waren aktuelle Themen zur Arbeit in den Daimler Werken. Es waren ausführliche Beiträge aus dem Arbeiterleben, über Arbeitsplätze, Gesundheit, Architektur, das Verkehrswesen, technische Entwicklungen, Kunst und Kultur, das Wohnen, die italienische und die amerikanische Automobilindustrie, Politik, der Unterschied von Handwerk und Industrie, Ökonomie und Reiseberichte. In der Werkzeitschrift kamen auch Arbeiter zu Wort, die sich zu technischen Belangen und den Arbeitsabläufen äusserten.
 
Fiverr ist eine Crowdworking-Plattform für Kreativarbeit. Eine Dienstleistung wird hier als Gig bezeichnet. Micha Kaufman, der CEO predigt in «Hate Your Job? Five Steps To Escape And Do What You Love» den Individualismus und feiert die Kreativität. Der Mensch soll nur das tun, was ihm Spass macht, die erzwungene Arbeit soll aus der Arbeit entfernt werden. Doch heute wie damals lassen sich die Ungleichheiten nicht einfach durch flotte Sprüche überspielen. Auch Kaufman ist Chef eines Konzerns, wo er ein Vielfaches eines Gig’s Produzierenden verdient. Während Rosenstock-Hüssy noch eine gemeinsame Sprache mit der Arbeiterschaft anstrebte, diktiert Kaufman dem kreativen Prekariat den Spass. Diese unterschiedlichen Auffassungen von Arbeit, das Verhältnis zu der industriellen Lohnarbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Unterschied zu einer digitalen Arbeiterschaft heute, verflicht Stefan Wegmüller in seiner Videoarbeit «In der Welt der Arbeit».
 
Sequenzen von Quellenmaterial aus der Daimler Werkzeitung werden mit den Leitsprüchen des Konzernchefs von Fiverr orchestriert. Das Textmaterial wird aus seinem ursprünglichen Zeitkontext gelöst und erfährt gesprochen eine neue Wertung. Der Künstler vereinheitlicht die Texte von 1919, indem er sie gleich behandelt wie die Texte des Fiverr CEO’s. Er gibt die Fragmente verschiedenen Anbieterinnen und Anbietern auf der Fiverr-Plattform zum Einsprechen in Auftrag. Als Videosequenzen treten die historischen Texte aus der Werkzeitung und die gegenwärtigen Leitsätze dennoch zueinander in Kontrast. Die Videoarbeit referiert indirekt an die Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre. Die Künstler damals wollten die Realität ohne Wertung, mit einer kühlen Distanz aufzeigen. Die verschiedenen Schritte, die zum Video führen, vom Recherchieren und Auswählen des Materials, dem assoziativen Aneignen der Texte, bis zum klar umrissenen Rahmen und dem Bestimmen der Struktur, schaffen diese Distanz. Stefan Wegmüller findet sich als Auftraggeber in einer Rolle wieder, die ihm selber Unbehagen bereitet. Er bedient sich zwar, auf Empfehlung von Micha Kaufman, den Talenten der anderen digitalen Arbeiterinnen und Arbeiter, legt aber die Produktionsbedingungen offen. Damit schafft er Transparenz. Nicht zuletzt ist dieses Begleitheft zum Video auch dafür ein Instrument. Hier kann neben den verwendeten Texten auch nachgelesen werden, für welchen Gig wie viel bezahlt wurde. Als Kuratorin des Ausstellungsprojektes habe ich mit Stefan Wegmüller vereinbart, dass er für diese Videoarbeit ein Honorar von 1500.– Franken erhält.
 
Anna Bürkli
 
→ In the world of labour.pdf